Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Wie kann ein Rechtsstreit um eine Räumung entstehen, obwohl der Bewohner bereits ausgezogen ist?
- Was war der Auslöser für die fristlose Kündigung?
- Warum reichte die Betreiberin der Einrichtung eine Klage ein?
- Wie urteilte das Landgericht über die Kosten und warum legte der Bewohner Beschwerde ein?
- Nach welcher Regel entscheidet ein Gericht, wer die Kosten trägt, wenn eine Klage überflüssig wird?
- Hatte die Betreiberin einen triftigen Grund, dem Bewohner zu kündigen?
- War der Vorwurf der sexuellen Übergriffe für eine Klage ausreichend konkret?
- Warum war die Entscheidung des Landgerichts, die Kosten zu teilen, am Ende fair?
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wie werden die Gerichtskosten verteilt, wenn eine Klage zurückgenommen wird, weil sich der eigentliche Streitpunkt erledigt hat?
- Welche Voraussetzungen müssen für eine fristlose Kündigung eines Wohn- oder Betreuungsvertrages erfüllt sein?
- Wann gilt eine Klageschrift als ausreichend „substantiiert“ für ein Gerichtsverfahren?
- Welche rechtlichen Möglichkeiten hat ein Vermieter, wenn ein Mieter trotz Kündigung nicht auszieht?
- Nach welchen Kriterien beurteilt ein Gericht die Erfolgsaussichten einer Klage, wenn diese vor einer Beweisaufnahme zurückgenommen wird?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Urteil Az.: 4 W 105/24 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Zum vorliegendenDas Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
- Datum: 29.04.2025
- Aktenzeichen: 4 W 105/24
- Verfahren: Beschwerdeverfahren
- Rechtsbereiche: Vertragsrecht (insbesondere für Wohn- und Betreuungsverträge), Mietrecht, Prozessrecht
Beteiligte Parteien:
- Kläger: Eine gemeinnützige Gesellschaft, die Wohn- und Betreuungsleistungen für Menschen mit Behinderungen anbietet. Sie verklagte den Bewohner auf Räumung einer Wohneinrichtung.
- Beklagte: Ein Bewohner der Wohneinrichtung. Er wehrte sich gegen die Klage und forderte, dass die Klägerin die Gerichtskosten trägt.
Worum ging es genau?
- Sachverhalt: Die gemeinnützige Gesellschaft kündigte einem Bewohner einer Wohneinrichtung wegen angeblicher sexueller Übergriffe fristlos. Sie reichte eine Klage auf Räumung ein, doch der Bewohner zog vor Zustellung der Klage aus.
Welche Rechtsfrage war entscheidend?
- Kernfrage: Wer muss die Kosten für ein Räumungsverfahren tragen, wenn der Bewohner bereits ausgezogen ist, bevor er die Klage überhaupt erhalten hat und die Klage dann zurückgezogen wurde?
Wie hat das Gericht entschieden?
- Beschwerde zurückgewiesen: Das Gericht wies die Beschwerde des Bewohners gegen die Kostenentscheidung des Landgerichts zurück.
- Kernaussagen der Begründung:
- Berechtigter Klageanlass: Als die gemeinnützige Gesellschaft die Klage einreichte, gab es einen berechtigten Grund dafür, da der Räumungsanspruch plausibel erschien.
- Gerechtfertigte Kündigung: Die Fristlose Kündigung des Wohn- und Assistenzvertrages war gerechtfertigt, da die Klägerin schlüssig wiederholte sexuelle Übergriffe des Beklagten als grobe Pflichtverletzungen vorgetragen hatte und die Sicherheit anderer Bewohner Vorrang vor dem Verbleib des Beklagten hatte.
- Ausreichender Sachvortrag: Die Klägerin hatte ausreichend konkrete Details zu den angeblichen Übergriffen geliefert, sodass das Gericht eine Beweisaufnahme für notwendig hielt.
- Faire Kostenaufteilung: Da die Klage bei Einreichung begründet erschien und der Ausgang des Verfahrens offen gewesen wäre, war die vom Landgericht getroffene Kostenaufteilung (jede Partei trägt ihre eigenen Kosten) fair.
- Folgen für die Beklagte:
- Der Bewohner muss die Kosten seines Beschwerdeverfahrens tragen.
- Die Kosten für das ursprüngliche Räumungsverfahren (vor der Beschwerde) bleiben wie vom Landgericht entschieden: jede Partei trägt ihre eigenen Anteile.
Der Fall vor Gericht
Wie kann ein Rechtsstreit um eine Räumung entstehen, obwohl der Bewohner bereits ausgezogen ist?
Ein Mann verlässt seine Wohnung in einer betreuten Einrichtung, kurz nachdem sein Vermieter eine Räumungsklage bei Gericht eingereicht hat. Der Grund für die Klage hat sich damit erledigt, noch bevor der Mann überhaupt offiziell davon erfahren hat. Man sollte meinen, der Fall wäre damit beendet. Doch stattdessen entbrennt ein erbitterter Streit, der bis vor das Oberlandesgericht Hamburg führt. Es geht nicht mehr um die Wohnung, sondern um eine Frage, die oft mehr wiegt als der ursprüngliche Konflikt: Wer muss die Kosten für die Anwälte und das Gericht bezahlen? Dieser Fall beleuchtet, wie Gerichte entscheiden, wer die Rechnung trägt, wenn der Anlass für eine Klage plötzlich verschwindet.
Was war der Auslöser für die fristlose Kündigung?

Die Geschichte beginnt in einer Hamburger Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderungen. Betrieben wird sie von einer gemeinnützigen Gesellschaft, die nicht nur Wohnraum, sondern auch Pflege- und Betreuungsleistungen anbietet. Einer der Bewohner, hier „der Beklagte“ genannt, lebte dort auf Basis eines Wohn- und Assistenzvertrages. Dieser Vertrag ist speziell auf die Bedürfnisse von Menschen zugeschnitten, die Unterstützung im Alltag benötigen.
In diesem Vertrag gab es eine besondere Klausel. Sie besagte, dass die Betreiberin das Vertragsverhältnis beenden kann, wenn das Verhalten eines Bewohners eine Gefahr für andere darstellt, insbesondere bei sexualisierter Gewalt. Genau das warf die Betreiberin dem Mann vor. Mit einem Schreiben vom 22. Februar 2024 kündigte sie ihm fristlos. Sie behauptete, er sei mehrfach gegenüber Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern sexuell übergriffig geworden. Trotz intensiver Gespräche, der Einrichtung einer Männergruppe und sogar der Beauftragung eines Sicherheitsdienstes für 6.000 Euro im Monat habe sich sein Verhalten nicht gebessert. Die Kündigung setzte ihm eine Frist, die Einrichtung bis zum 1. März 2024 zu verlassen.
Der Bewohner wehrte sich. Über seinen Anwalt ließ er die Kündigung am 28. Februar 2024 zurückweisen. Er bestritt die Intensität der Vorwürfe. Es sei lediglich „im Einzelfall zu einer Berührung der bekleideten Brust einer Mitbewohnerin gekommen“. Eine Gefährdung für andere bestehe nicht.
Warum reichte die Betreiberin der Einrichtung eine Klage ein?
Da der Bewohner die Kündigung nicht akzeptierte und die gesetzte Frist zum Auszug verstreichen ließ, sah die Betreiberin nur noch einen Weg: den Klageweg. Am 15. März 2024 reichte sie beim Landgericht Hamburg eine Räumungsklage ein. Eine solche Klage zielt darauf ab, einen Bewohner per Gerichtsbeschluss zum Verlassen der Wohnung zu zwingen.
In der Klageschrift konkretisierte die Betreiberin ihre Vorwürfe. Sie benannte eine Zeugin, die aussagen sollte, wie eine Mitbewohnerin unter dem Verhalten des Mannes litt. Diese Mitbewohnerin habe Angst gehabt, weil er nachts an ihre Tür klopfte, in ihr Zimmer eindrang und sie berührte. Die Betreiberin erklärte, dass alle Versuche, die Situation durch Unterstützungsangebote zu deeskalieren, gescheitert seien. Der Mann habe sich sogar männlichen Mitbewohnern zugewandt, nachdem er in der Männergruppe für das Thema sensibilisiert worden war.
Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Kurz nachdem die Klage bei Gericht eingegangen war, aber noch bevor sie dem Bewohner offiziell zugestellt wurde, zog dieser aus der Einrichtung aus. Damit war der Hauptzweck der Klage – die Räumung – hinfällig geworden. Die Betreiberin zog ihre Klage zurück. Der Streit um die Wohnung war beendet, der Streit ums Geld begann.
Wie urteilte das Landgericht über die Kosten und warum legte der Bewohner Beschwerde ein?
Die Betreiberin beantragte, dem ausgezogenen Bewohner die gesamten Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Ihr Argument: Sie habe einen klaren Grund zur Klage gehabt, und nur weil der Bewohner kurzfristig ausgezogen sei, dürfe sie nicht auf den Kosten sitzen bleiben. Der Bewohner sah das anders. Er argumentierte, die Klage sei von Anfang an unbegründet gewesen, da die Vorwürfe haltlos seien. Er habe also niemals Anlass für eine Klage gegeben, weshalb die Betreiberin die Kosten tragen müsse.
Das Landgericht Hamburg entschied sich für einen Mittelweg. Es hob die Kosten gegeneinander auf, was bedeutet, dass jede Partei ihre eigenen Anwaltskosten trägt und die Gerichtskosten geteilt werden. Die Richter begründeten dies damit, dass die Erfolgsaussichten der Klage offen gewesen seien. Da die Vorwürfe der sexuellen Übergriffe strittig waren, hätte eine Beweisaufnahme – also die Vernehmung von Zeugen – stattfinden müssen. Wie diese ausgegangen wäre, sei ungewiss. In einem solchen Fall sei es fair, die Kosten zu teilen.
Mit dieser Entscheidung war der Bewohner nicht einverstanden und legte eine sogenannte „Sofortige Beschwerde“ ein. Sein zentrales Argument war juristisch-technischer Natur: Er behauptete, die Klage der Betreiberin sei „unsubstantiiert“ gewesen. Das bedeutet, sie sei nicht ausreichend detailliert gewesen. Die Betreiberin habe nur den allgemeinen Begriff „sexueller Übergriff“ verwendet, ohne konkrete Taten mit Ort, Zeit und genauen Umständen zu beschreiben. Eine derart pauschale Behauptung könne man nicht beweisen, und daher sei die Klage von vornherein aussichtslos gewesen.
Nach welcher Regel entscheidet ein Gericht, wer die Kosten trägt, wenn eine Klage überflüssig wird?
Der Fall landete nun vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamburg. Die Richter dort mussten die Kostenentscheidung des Landgerichts überprüfen. Dafür gibt es eine spezielle Regel in der Zivilprozessordnung (§ 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO). Sie kommt genau in solchen Fällen zur Anwendung: Eine Klage wird zurückgenommen, weil sich der Streit erledigt hat, bevor der Beklagte überhaupt offiziell davon wusste.
Die Regel besagt, dass das Gericht die Kosten nach „billigem Ermessen“ verteilt. Das ist kein willkürlicher Akt, sondern eine Entscheidung, die sich an der Gerechtigkeit im Einzelfall orientiert. Das Gericht stellt sich dabei eine hypothetische Frage: Wer hätte den Prozess wahrscheinlich gewonnen, wenn der Bewohner nicht ausgezogen wäre und der Fall normal weitergelaufen wäre?
Um diese Frage zu beantworten, prüfte das OLG zwei Dinge:
- Gab es einen Anlass zur Klage? Hatte die Betreiberin also gute Gründe anzunehmen, dass sie ohne Gericht nicht zu ihrem Recht kommen würde?
- War die Klage bei Einreichung zulässig und begründet? Hätte die Klage also eine realistische Chance auf Erfolg gehabt?
Hatte die Betreiberin einen triftigen Grund, dem Bewohner zu kündigen?
Das OLG bejahte diese Frage klar. Der Vertrag zwischen der Betreiberin und dem Bewohner unterlag dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG). Dieses Gesetz schützt Bewohner besonders, erlaubt einem Unternehmer aber die Kündigung aus „wichtigem Grund“. Das Gericht sah hier gleich zwei mögliche wichtige Gründe erfüllt.
Erstens lag ein vertraglich vereinbarter Leistungsausschluss vor. Der Vertrag schloss eine Betreuung aus, wenn ständige Überwachung nötig würde oder die Gefahr sexualisierter Gewalt besteht. Die Betreiberin hatte argumentiert, dass genau das eingetreten sei. Das Verhalten des Bewohners habe eine so intensive Betreuung erfordert, die sie nicht leisten konnte und die vertraglich ausgeschlossen war.
Zweitens stellen wiederholte sexuelle Übergriffe auf Mitbewohner eine „gröbliche Pflichtverletzung“ dar. Sie verletzen das Persönlichkeitsrecht und die Sicherheit der anderen Bewohner, für deren Schutz die Betreiberin ebenfalls verantwortlich ist. Ein solches Verhalten macht die Fortsetzung des Vertrags für die Einrichtung unzumutbar. Das Gericht betonte, dass sexuelle Handlungen gegen den Willen anderer auch im Kontext der Betreuung von Menschen mit Intelligenzminderung nicht hingenommen werden dürfen. Das Interesse der Gemeinschaft am Schutz vor Übergriffen wiegt hier schwerer als das Interesse des Einzelnen, in seiner Wohnung zu bleiben.
War der Vorwurf der sexuellen Übergriffe für eine Klage ausreichend konkret?
Dies war der Kernpunkt der Beschwerde des Bewohners. Er meinte, die Klage sei zu pauschal gewesen. Das OLG Hamburg widersprach diesem Argument entschieden. Die Richter erklärten, was eine Klage „Substantiiert“ macht. Es ist wie beim Erzählen einer Geschichte: Man muss nicht jedes kleinste Detail von Anfang an ausbreiten. Man muss aber genug Fakten liefern, damit die Gegenseite versteht, worum es geht, und das Gericht prüfen kann, ob die Geschichte rechtlich relevant ist.
Die Betreiberin hatte in ihrer Klage zwar allgemein von „wiederholten sexuellen Übergriffen“ gesprochen, diese aber durch die Schilderung der Mitbewohnerin A konkretisiert: nächtliches Klopfen, Angst, Eindringen ins Zimmer, Berührungen. Dies, so das OLG, reiche völlig aus, um eine Beweisaufnahme zu rechtfertigen. In der Vernehmung der benannten Zeugin hätten dann die genauen Details zu Ort, Zeit und Art der Vorfälle geklärt werden können. Die Klage war also nicht unklar, sondern einfach nur streitig.
Zusätzlich fiel den Richtern auf, dass der Bewohner selbst vor dem Prozess eingeräumt hatte, es sei „im Einzelfall zu einer Berührung der bekleideten Brust einer Mitbewohnerin gekommen“. Dieses eigene Eingeständnis machte den Vortrag der Betreiberin noch plausibler und widersprach der Behauptung, die Vorwürfe seien völlig aus der Luft gegriffen.
Warum war die Entscheidung des Landgerichts, die Kosten zu teilen, am Ende fair?
Nachdem das OLG Hamburg all diese Punkte geprüft hatte, kam es zu einem klaren Ergebnis.
- Die Betreiberin hatte einen Anlass zur Klage, da der Bewohner die fristlose Kündigung über seinen Anwalt ausdrücklich zurückgewiesen und klargemacht hatte, dass er nicht freiwillig ausziehen würde.
- Die Klage war schlüssig und ausreichend begründet. Die vorgetragenen Fakten reichten aus, um einen wichtigen Kündigungsgrund darzulegen.
- Der Ausgang des Verfahrens wäre von der Beweisaufnahme abhängig gewesen – also davon, was die Zeugen ausgesagt und wem das Gericht am Ende geglaubt hätte.
Weil der Ausgang des Prozesses somit offen war, ist die Entscheidung des Landgerichts, die Kosten 50/50 zu teilen, eine faire und sachgerechte Lösung. Sie entspricht genau dem, was das Gesetz für solche Fälle vorsieht. Das OLG wies die Beschwerde des Bewohners daher zurück. Er muss nicht nur seinen Anteil an den Kosten des ursprünglichen Verfahrens tragen, sondern auch die gesamten Kosten für das erfolglose Beschwerdeverfahren.
Die Schlüsselerkenntnisse
Gerichte entscheiden nach billigem Ermessen über die Kostenverteilung, wenn eine Klage durch äußere Umstände gegenstandslos wird, bevor das Verfahren beginnt.
- Anlass zur Klage genügt für Kostenschutz: Wer eine Klage einreicht, nachdem die Gegenseite eine Leistung ausdrücklich verweigert hat, handelt berechtigt und muss nicht automatisch die Kosten tragen, selbst wenn sich der Streit später von selbst erledigt.
- Substantiierung braucht keine Vollständigkeit: Eine Klage ist ausreichend begründet, wenn sie genug Fakten enthält, um eine Beweisaufnahme zu rechtfertigen – jedes kleinste Detail muss nicht von Anfang an benannt werden.
- Offener Prozessausgang rechtfertigt Kostenteilung: Hätte der Erfolg einer Klage von der Glaubwürdigkeit von Zeugen abhängen, teilen Gerichte die Kosten fair zwischen beiden Parteien auf, statt eine Seite vollständig zu belasten.
Prozesskosten folgen der Wahrscheinlichkeit des hypothetischen Erfolgs, nicht dem Zufall äußerer Umstände, die einen Rechtsstreit vorzeitig beenden.
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Unsere Einordnung aus der Praxis
Fälle wie dieser sind es, die uns in der Praxis immer wieder beschäftigen: Wann ist eine Klage wirklich gut vorbereitet? Das OLG Hamburg schiebt hier einer überzogenen Formalismusdebatte einen Riegel vor und stellt klar: Es genügt, die relevanten Tatsachen so konkret darzulegen, dass die Gegenseite versteht, worum es geht, und eine Beweisaufnahme möglich ist. Eine Erleichterung für die Klägerseite, die damit nicht jeden Beweis im Detail vorwegnehmen muss, und eine pragmatische Entscheidung, die den Fokus auf die eigentliche Sache lenkt.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wie werden die Gerichtskosten verteilt, wenn eine Klage zurückgenommen wird, weil sich der eigentliche Streitpunkt erledigt hat?
Wenn eine Klage zurückgenommen wird, weil der ursprüngliche Streitpunkt sich erledigt hat, entscheidet das Gericht über die Verteilung der Gerichtskosten nach einem Prinzip namens „Billiges Ermessen„. Das bedeutet, die Kosten werden in einer Art und Weise aufgeteilt, die dem Einzelfall gerecht wird.
Stell dir vor, ein Fußballspiel wird abgebrochen, kurz bevor der Schiedsrichter eine Elfmeterentscheidung treffen muss, die den Ausgang des Spiels massiv beeinflussen könnte. Um fair zu entscheiden, wer die Kosten für das abgebrochene Spiel trägt, müsste der Schiedsrichter sich überlegen, wie der Elfmeter wahrscheinlich ausgegangen wäre und welches Team ohne Abbruch gewonnen hätte.
Diese Entscheidung nach „billigem Ermessen“ ist keine reine Willkür. Stattdessen stellt sich das Gericht die hypothetische Frage: Wer hätte den Prozess voraussichtlich gewonnen, wenn der Fall normal weitergelaufen und ein Urteil ergangen wäre? Dazu prüft das Gericht zwei zentrale Punkte: Gab es einen berechtigten Anlass für die Klage, und hatte die Klage zum Zeitpunkt ihrer Einreichung eine realistische Chance auf Erfolg?
Diese sorgfältige Prüfung stellt sicher, dass die Kosten auch dann fair verteilt werden, wenn der ursprüngliche Rechtsstreit sich bereits in Luft aufgelöst hat.
Welche Voraussetzungen müssen für eine fristlose Kündigung eines Wohn- oder Betreuungsvertrages erfüllt sein?
Eine fristlose Kündigung eines Wohn- oder Betreuungsvertrages ist nur möglich, wenn ein „Wichtiger Grund“ vorliegt, der die Fortsetzung des Vertrages unzumutbar macht. Stell dir vor, ein Fußballspieler verhält sich immer wieder so, dass er seine Mitspieler gefährdet oder das Teamklima massiv stört. Auch wenn sein Vertrag läuft, könnte der Verein ihn sofort vom Spielfeld nehmen oder sogar entlassen müssen, weil sein Verhalten das weitere Zusammenspiel unmöglich macht und die Gemeinschaft schützt.
Ein solcher „wichtiger Grund“ kann aus schwerwiegenden Pflichtverletzungen entstehen. Dazu gehören zum Beispiel wiederholte sexuelle Übergriffe auf Mitbewohner, die deren Persönlichkeitsrechte und Sicherheit verletzen. Eine Kündigung kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn das Verhalten eines Bewohners eine ständige Überwachung erforderlich macht, die vertraglich als Leistung ausgeschlossen war.
In solchen Fällen wägt man immer die Interessen beider Seiten ab. Dabei hat der Schutz der Gemeinschaft vor Übergriffen und Gefährdungen oft Vorrang. Solche Regeln stellen sicher, dass alle Beteiligten in einer sicheren und vertrauensvollen Umgebung leben können und die Interessen der Gemeinschaft geschützt werden.
Wann gilt eine Klageschrift als ausreichend „substantiiert“ für ein Gerichtsverfahren?
Eine Klageschrift ist ausreichend „substantiiert“, wenn sie genügend Fakten liefert, damit die Gegenseite versteht, worum es geht, und das Gericht die rechtliche Relevanz prüfen kann. Es ist nicht nötig, jedes kleinste Detail sofort auszubreiten.
Stell dir vor, du erzählst eine Geschichte. Du musst nicht von Anfang an jedes kleine Detail nennen, aber du gibst genug Informationen, damit dein Zuhörer die Haupthandlung versteht und nachvollziehen kann.
Im Gerichtsverfahren bedeutet das: Die Klage muss so klar sein, dass der Gegner genau weiß, welcher Vorwurf gegen ihn erhoben wird und wie er sich darauf vorbereiten kann. Für das Gericht sind diese Informationen entscheidend, um zu beurteilen, ob der Anspruch überhaupt rechtlich haltbar ist und welche Beweise es dafür sammeln muss. Das Oberlandesgericht Hamburg hat in einem Fall klargestellt, dass allgemeine Vorwürfe, die aber durch spezifische Schilderungen konkretisiert werden, ausreichen. Die genauen Einzelheiten, wie Ort, Zeit und Art der Vorkommnisse, können dann später in einer Beweisaufnahme, zum Beispiel durch Zeugenaussagen, geklärt werden.
Diese Regel sorgt dafür, dass Klagen von Anfang an eine solide Grundlage haben und eine faire Beweisaufnahme möglich wird, ohne das Verfahren mit unnötigen Details zu überladen.
Welche rechtlichen Möglichkeiten hat ein Vermieter, wenn ein Mieter trotz Kündigung nicht auszieht?
Wenn ein Mieter trotz einer Kündigung nicht freiwillig auszieht, ist die Einreichung einer Räumungsklage der nächste und oft unausweichliche rechtliche Schritt für den Vermieter. Diese Klage zwingt den Mieter per Gerichtsbeschluss, die Wohnung zu verlassen.
Stellen Sie sich das wie bei einem Fußballspiel vor: Nur der Schiedsrichter kann eine rote Karte zeigen und einen Spieler vom Feld schicken. Ähnlich braucht auch ein Vermieter eine offizielle Entscheidung, hier einen Gerichtsbeschluss, um den Mieter zum Auszug zu zwingen. Ohne diesen „Schiedsrichterentscheid“ ist es nicht erlaubt, jemanden aus der Wohnung zu entfernen.
Eine Räumungsklage reicht der Vermieter ein, wenn der Mieter die Kündigung nicht akzeptiert und die zum Auszug gesetzte Frist verstreichen lässt. Ziel der Klage ist es, einen gerichtlichen Titel zu erwirken, der dem Vermieter die Möglichkeit gibt, die Räumung gegebenenfalls auch mittels Zwangsvollstreckung durchzusetzen. Dies ist der einzig rechtlich zulässige Weg, jemanden aus einer Wohnung zu entfernen.
Dieser rechtlich geregelte Weg über das Gericht stellt sicher, dass die Rechte beider Parteien geschützt sind und eine Entfernung aus der Wohnung nur unter Einhaltung klarer Regeln erfolgt.
Nach welchen Kriterien beurteilt ein Gericht die Erfolgsaussichten einer Klage, wenn diese vor einer Beweisaufnahme zurückgenommen wird?
Wenn eine Klage zurückgezogen wird, weil der Grund für den Streit weggefallen ist, beurteilt das Gericht die Erfolgsaussichten hypothetisch, als wäre der Prozess ganz normal weitergelaufen. Es fragt sich also, wer den Prozess wahrscheinlich gewonnen hätte, um die Kosten fair zu verteilen.
Stell dir vor, ein Fußballspiel wird abgebrochen, bevor es richtig zu Ende gespielt ist. Der Schiedsrichter muss dann trotzdem beurteilen, welches Team wahrscheinlich gewonnen hätte, um zum Beispiel die Kosten für die Teams fair zu verteilen.
Um diese hypothetische Frage zu beantworten, prüft das Gericht zwei entscheidende Punkte. Zuerst schaut es, ob es überhaupt einen guten Grund für die Klage gab – ob sie also notwendig war, um ein Recht durchzusetzen. Zweitens untersucht es, ob die Klage zu Beginn realistisch erfolgreich gewesen wäre, sprich, ob die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren und sie inhaltlich fundiert war.
Oft hängt die Einschätzung dieser Erfolgsaussichten davon ab, wie eine gedachte Beweisaufnahme ausgegangen wäre, also welche Fakten das Gericht nach Anhörung von Zeugen oder Sichtung von Dokumenten als wahr angenommen hätte.
Diese Vorgehensweise sorgt dafür, dass die Kosten eines Verfahrens fair verteilt werden, auch wenn der ursprüngliche Streit nicht bis zum Ende gerichtlich ausgetragen werden musste.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Billiges Ermessen
Das billige Ermessen ist eine richterliche Entscheidung über die Verteilung der Verfahrenskosten, die sich an der Gerechtigkeit im Einzelfall orientiert. Es kommt zur Anwendung, wenn eine Klage zurückgenommen wird, nachdem sich der Streitpunkt erledigt hat. Das Gericht stellt sich dabei die hypothetische Frage: Wer hätte den Prozess wahrscheinlich gewonnen, wenn er normal weitergelaufen wäre?
Beispiel: Das Oberlandesgericht Hamburg musste nach billigem Ermessen entscheiden, wer die Kosten trägt, nachdem die Räumungsklage zurückgezogen wurde. Es prüfte, ob die Betreiberin einen Anlass zur Klage hatte und ob diese Erfolg gehabt hätte.
Fristlose Kündigung
Eine fristlose Kündigung beendet einen Vertrag sofort, ohne die üblichen Kündigungsfristen einzuhalten. Sie ist nur bei einem „wichtigen Grund“ möglich, der die Fortsetzung des Vertrags unzumutbar macht. Bei Wohn- und Betreuungsverträgen können wiederholte sexuelle Übergriffe oder die Notwendigkeit ständiger Überwachung solche Gründe darstellen.
Beispiel: Die Betreiberin kündigte dem Bewohner am 22. Februar 2024 fristlos wegen angeblicher sexueller Übergriffe auf Mitbewohner und setzte ihm eine Frist bis zum 1. März 2024 zum Auszug.
Räumungsklage
Eine Räumungsklage zielt darauf ab, einen Bewohner per Gerichtsbeschluss zum Verlassen der Wohnung zu zwingen. Sie ist der einzig rechtlich zulässige Weg für Vermieter, wenn ein Mieter trotz Kündigung nicht freiwillig auszieht. Ohne gerichtlichen Titel darf niemand aus seiner Wohnung entfernt werden.
Beispiel: Die Betreiberin reichte am 15. März 2024 beim Landgericht Hamburg eine Räumungsklage ein, nachdem der Bewohner die Kündigung zurückgewiesen hatte und die Frist zum Auszug hatte verstreichen lassen.
Sofortige Beschwerde
Die sofortige Beschwerde ist ein Rechtsmittel, mit dem eine Partei gegen bestimmte gerichtliche Entscheidungen vorgehen kann, ohne das Hauptverfahren abwarten zu müssen. Sie ermöglicht es, Entscheidungen wie Kostenverteilungen schnell durch ein höheres Gericht überprüfen zu lassen. Die Beschwerde muss innerhalb kurzer Fristen eingelegt werden.
Beispiel: Der Bewohner legte sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung des Landgerichts ein, weil er meinte, die Klage sei von Anfang an unsubstantiiert und aussichtslos gewesen.
Substantiiert
Eine Klage ist substantiiert, wenn sie genügend Fakten liefert, damit die Gegenseite versteht, worum es geht, und das Gericht die rechtliche Relevanz prüfen kann. Es müssen nicht alle Einzelheiten von Anfang an genannt werden, aber die wesentlichen Vorwürfe müssen klar erkennbar sein. Genaue Details können später in der Beweisaufnahme geklärt werden.
Beispiel: Das OLG Hamburg entschied, dass die Klage ausreichend substantiiert war, obwohl sie allgemein von „sexuellen Übergriffen“ sprach, weil sie diese durch konkrete Schilderungen der betroffenen Mitbewohnerin (nächtliches Klopfen, Eindringen ins Zimmer, Berührungen) konkretisierte.
Wichtiger Grund
Ein wichtiger Grund ist eine schwerwiegende Vertragsverletzung, die die Fortsetzung eines Vertragsverhältnisses unzumutbar macht. Bei Wohn- und Betreuungsverträgen können das wiederholte Übergriffe auf andere Bewohner oder ein Verhalten sein, das ständige Überwachung erfordert. Das Interesse der Gemeinschaft am Schutz wiegt dabei oft schwerer als das Interesse des Einzelnen.
Beispiel: Das Gericht sah zwei wichtige Gründe als erfüllt an: Erstens lag ein vertraglich vereinbarter Leistungsausschluss vor, da das Verhalten des Bewohners eine intensive Betreuung erforderte. Zweitens stellten die wiederholten sexuellen Übergriffe eine gröbliche Pflichtverletzung dar, die andere Bewohner gefährdete.
Wichtige Rechtsgrundlagen
Kostenentscheidung bei Klagerücknahme wegen Erledigung (§ 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO)
- Kernaussage: Diese Regel bestimmt, wie die Kosten eines Gerichtsverfahrens verteilt werden, wenn die Klage zurückgenommen wird, weil sich der ursprüngliche Streit erledigt hat, bevor der Beklagte davon erfuhr.
- → Bedeut im vorliegenden Fall: Diese Vorschrift war die zentrale Rechtsgrundlage für die Gerichtsentscheidung über die Verfahrenskosten, da die Räumungsklage hinfällig wurde, weil der Bewohner bereits ausgezogen war, bevor ihm die Klage zugestellt wurde.
Kündigung aus wichtigem Grund (Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) i.V.m. BGB-Prinzipien)
- Kernaussage: Ein Vertrag kann außerordentlich aus wichtigem Grund gekündigt werden, wenn die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses für eine Partei unzumutbar ist.
- → Bedeutung im vorliegenden Fall: Dieses Prinzip war entscheidend für die Beurteilung, ob die fristlose Kündigung der Betreiberin rechtmäßig war und die Räumungsklage somit Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
Substantiierungspflicht im Zivilprozess (Allgemeines Prozessrechtsprinzip)
- Kernaussage: Eine Klageschrift muss die Tatsachen, die den Anspruch begründen, so konkret darstellen, dass die Gegenseite sich verteidigen und das Gericht die Behauptungen prüfen kann.
- → Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Frage, ob die Klageschrift der Betreiberin ausreichend detailliert war, war ein zentraler Streitpunkt in der Beschwerde und für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage entscheidend.
Das vorliegende Urteil
OLG Hamburg – Az.: 4 W 105/24 – Urteil vom 29.04.2025
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